BOTTROPER STRASSENNAMEN – Teil 4: Tourneaustraße

Herkunft, Bedeutung, Gegenwart

Straßennamen begleiten uns unser ganzes Leben. Dort erleben wir unsere Kindheit, Heiraten, Arbeiten, Besuchen, Leben und Sterben. Das sind unsere Heimatstraßen. Doch die Straßennamenbedeutung ist für uns eher nebensächlich. Woher stammt der Name, was oder wer steckt dahinter und manche würden mit einer Zeitreise gerne sehen, wie sie vor 100 oder 50 Jahren ausgesehen haben mag.

Tourneaustraße, früher Helenenstraße

Eine besondere Bedeutung aller Straßennamen in Bottrop besitzt die Tourneaustraße in Bottrop. Keine 200 Meter lang verbindet sie die Ortbergstraße mit der Kirchhellener Straße und liegt parallel zur Böckenhoffstraße und „Am Lamperfeld“.

Herkunft und Namenserklärung

Bevor sie am 16.03.1938 durch den Rat der Stadt nach dem Bürgermeister und Amtmann Wilhelm Tourneau benannt wurde, hieß sie Helenenstraße. Es ist jedoch nicht herauszufinden seit wann es diese Straße gibt. Schon 1906 ist sie eingezeichnet im Stadtplan. Allerdings gibt es nur am Rand zur Kirchheller Straße Gebäude, der Rest der Straße sind wahrscheinlich Selbstversorgergärten, aber schon eingezeichnete Flurstücke zur Bebauung. Im Stadtplan von 1929 ist auch das Gelände eingezeichnet, wo das jüdische Bethaus gestanden hat.

1906 hieß die Tourneaustraße noch Helenenstraße – in der Mitte ist ein Gebäude eingezeichnet, das von der Lage wie das Bethaus aussieht
Tourneaustraße im Stadtplan von 1938 mit der Hausnummer 5 – das Jüdische Bethaus
Heutige Stadtplan mit der Tourneaustraße – Kartenausschnitte mit freundlicher Genehmigung der Stadt Bottrop

Wilhelm Tourneau wurde geboren in Duisburg am 14.11.1794. Er begann seine Karriere als Bürgermeister von Kirchhellen schon mit 22 Jahren von 1816 bis 1853. Ab 1821 bis 1851 übernahm er dieses Amt auch zusätzlich in Bottrop und Osterfeld. Der Name Tourneau stammt wahrscheinlich aus einer protestantischen Exilantenfamilie aus Frankreich, die zu tausenden im Zuge der Hugenottenunterdrückung nach Preussen flüchteten. In den Befreiungskriegen kämpfte er gegen Napoloen als freiwilliger Jäger.

Wilhelm Tourneau

Nach 1821 verlegte er den  Amtssitz von der Burg Vondern ins Dorf Bottrop, das damals durch die Napoleonischen Kriege schwer verschuldet und verwüstet war. Seiner leidenschaftlichen Tätigkeit als Amtmann ist es zu verdanken, dass aus Bottrop eine aufblühende Landgemeinde wurde. Er setzte sich für eine verbesserte Infrastruktur in die Nachbarstädte ein. Im Winter waren die unbefestigten Straßen oft ein Hindernis und konnten den örtlichen Handel- und Warenaustausch stark verringern. Die in Bottrop ansässigen Bauern sollten dadurch bessere Verkaufsmöglichkeiten bekommen. Auch der Markt in der Dorfmitte florierte unter seiner Führung und wurde zu einer besonderen Institution, fast vergleichbar mit Volksfesten. Tourneau war mit seinen ausführlichen Berichten über die Entwicklung der drei Gemeinden und Finanzen im Regierungsbezirk hoch angesehen. Er ließ die älteste Dorfschule sanieren und baute eine neue in der Boy.

Am 24.8.1851 wurde er jedoch nicht mehr wiedergewählt. Wahrscheinlich dem Alter geschuldet, wurde seine Amtsführung in Augen der Gemeindevertretung nicht mehr zeitgemäß, so wurde sein bisheriger Sekretär Morgenstern als sein Nachfolger gewählt. Nach noch zwei Jahren Bürgermeisteramt in Kirchhellen zog er mitsamt seiner Familie nach Sterkrade, wo er finanzell verarmt mit 66 Jahren verstarb.

Die besondere Bedeutung der Tourneaustraße für Bottrop

Auf der geraden Seite entstand in den 1920er Jahren eine große Backsteinbebauung der „Gemeinnützigen Baugenossenschaft Eigenheim“. Insgesamt gibt es nur 6 zusammenhängende Gebäudekomplexe mit 16 Hausnummern.

Gebäude der „Gemeinnützigen Genossenschaft Eigenheim“ aus den 1920er Jahren auf der geraden Hausnummerseite – Foto: André Brune
Architektonisches Kleinod mit den Holzblenden – Foto: André Brune
Der nach dem Abriss des Bethauses im Jahr 2007 entstandene imposante Neubau mit schönen aufgeteilten Wohnungen – Foto: André Brune

Auf der Ungeraden konnte sich zur gleichen Zeit in Höhe der Hausnummerseite 5-11, die etwa 225 Personen umfassende jüdische Bevölkerung Bottrops ein Bethaus einrichten, wo ungefähr 50 Juden ihren Glauben gleichzeitig ausüben konnten. Das Bethaus wurde bis zur Verwüstung in der „Reichsprogromnacht“ vom 9. auf den 10.11.1938 genutzt. Danach wurde es zu einem Lager umfunktioniert. Zuletzt bis zum Abriss war dort das Möbellager Dümpel & Spörlein.

Der Möbelhandel von Dümpel & Spörlein bis 2007
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Bottrop aus Manfred Lück: Juden in Bottrop

Es gibt keine Fotos aus der aktiven Zeit des Bethauses. Eine Synagoge konnte sich die kleine Gemeinde nicht leisten. 1932 vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten in Bottrop 225 Menschen jüdischen Glaubens. Große feierliche Messen wurden entweder in den Synagogen Essen oder Gelsenkirchen-Buer besucht. In einem abgetrennten Raum lag die Thorarolle, ein Schrank zur Aufbewahrung der Schriftrolle und ein Tisch für Kantor und Vorbeter. Daran konnten sich Oskar und Jenny Kleinberger, Nachfahren des Möbelhausbesitzers am Pferdemarkt, bei einem Besuch 1989 noch erinnern.

Grundriss des Bethauses in Bottrop auf der Tourneaustraße 11

Ein besonderes Datum gilt in Bottrop der 27.01.2015. Am Tag genau siebzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde gegenüber des ehemaligen Bethauses eine Stele des Künstler Guido Hofmann für jeden Vorbeigehenden sichtbar in Form des Davidsterns aufgestellt. Eine Bronzetafel erinnert an das Bethaus und das Leid der Bottroper Juden und Jüdinnen. Die Stele wurde vom Künstler bewußt aus 100 Jahre alten Ziegelsteine aus einem abgebrochenen Kotten in Feldhausen errichtet. Die Ziegelsteine stammen aus einer Zeit, als die Bottroper Juden hier eine eine rege Gemeinde hatten und ohne Probleme ihren Glauben ausüben konnten.

Zeitungsausschnitt der Bottroper Volkszeitung vom 10.11.1938 über die Reichsprogromnacht.
Besonders makaber ist die Ehrung der darunter geschriebene Beitrag über ein 40jähriges Ehejubiläum

Am Tag der Aufstellung der Stele und Holocaust-Gedenktag kamen rund 250 BottroperInnen, darunter zahlreiche SchülerInnen. Die Männer trugen aus Respekt der jüdischen Religionskultur einen Hut. Oberbürgermeisters Bernd Tischler mahnte mit besonderen Worten, dass die schrecklichen Ereignisse in der Stadt nicht vergessen werden dürfen: „Wir stellen uns gegen alle, die unsere offene und freie Gesellschaft attackieren. Nur wenn wir uns der Geschichte stellen, können wir dafür sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholt“. Anschließend sang der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen-Bottrop-Gladbeck, Chaim Kornblum, das Gebet für alle ca. 6 Millionen ermordeten Juden Europas im zweiten Weltkrieg, zu denen auch der Großteil der Bottroper Juden gehörte.

Der Standort der Stele wurde mit Bedacht und einem Kompromissentscheid gewählt und befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Sturm „Ela“ 2013 einen Baum umgeknickt hat und eine leere Stelle hinterließ. Wer die Inschrift liest, schaut nun auf die andere Seite mit einem besonderen Blickwinkel genau auf den früheren Standort des Bethauses, denn die Neu-Eigentümer des Gebäudes 5-11 lehnten mehrheitlich, trotz Zusage des Erbauers Heinrich Jockenhöfer, die Erinnerungstafel an das neue Haus anzubringen ab.

Was passierte in der Tourneaustraße in der Reichprogromnacht am 9./10.11.1938?

Durchgetrichene jüdische Gewerbe im Gewerbeverzeichnis im Adressbuch Bottrop 1938

Die organisierten Schlägertrupps der SA, die Abkürzung für Sturmabteilung, in allen Teilen Deutschlands haben in Bottrop das Bethaus nicht abgebrannt, sondern von Innen verwüstet. Vielleicht entschied die Truppe sich gegen das übliche Verbrennen jüdischer Bethäusern und Synagogen durch die Lage zur Nähe des Rathauses und umliegende Haussiedlungen. Anschließend wurde das Bethaus zu einem Lager umfunktioniert und verfiel bis zum Abriss 2007. Aus dem Inneren des Bethauses und späteren Lagers gibt es leider keinerlei fotografischen Aufnahmen. Im Jahr 2000 wurde eine Tafel zur Erinnerung an die ursprüngliche Funktion und Situation der Bottroper Juden an das ehemalige Bethaus angebracht. Vor dem Abriss wurde sie abgenommen, aufbewahrt und nach dem Einschmelzen mit einer Erweiterung der Inschrift auf die Davidstern-Stele neu angebracht. Es darf nicht vergessen werden, dass auch Bottrop zu den „Judenfreien“ Städten in Deutschland durch die unnachahmlichen und unglaublichen Taten zahlreicher BürgerInnen der damaligen Zeit wurde.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass auch am 9.11.1938, in der von den Nationalsozialisten bezeichnete „Reichskristallnacht“ wegen der zerstörten Fensterscheiben unzählige Geschäfte eben auch in Bottrop Zerstörung und Erniedrigung angesehener Bürger, Bürgerinnen und auch lieben Nachbarn brachte. Im Adressbuch von 1938 sind jüdische Gewerbe schon mit einem Lineal durchgestrichen, während auf einer anderen Seite die Parteistruktur der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei ganzseitig aufgelistet ist mit Anschrift und Fernsprechnummer, so hieß früher die „Telefonnummer“ im Verzeichnis:

NSDAP- Gliederung mit Anschrift und Telefonnummer im Adressbuch Bottrop 1938

Verdrängen und Vergessen, Schweigen und Angst

Verwüstetes Möbelhaus von Reichenstein – Bildrechte Stadtarchiv / Stadt Bottrop

Antje Herbst (Admin von der Facebookgruppe Bottrop Geschichte und Geschichten) sagt zum Bild: „So sah es nach der Reichskristallnacht aus. Meine Familie konnte sich noch gut an das Geschäft erinnern. Der Besitzer Reichenstein soll nicht nur ein sehr liebenswerter und wie man sagt „feiner“ Mensch gewesen sein. Er hat es ärmeren Leuten auch ermöglicht, bei ihm günstig Möbel zu kaufen“

Verdrängung und Vergessen und der Verfall des ehemaligen Bethauses ging einher in einer ganzen Generation. Nur wenige Menschen können und wollten sich erinnern und erzählen über das Schicksal der Bottroper Juden. So blieb mir persönlich eine Geschichte einer schon verstorbenen alten Bottroperin im Kopf hängen:

Mein Vater war in der SPD. Wir durften am Tisch nur flüstern, damit er nicht zur Gestapo und am Ende nach der Folter noch ins KZ landete. Wir hatten jüdische Nachbarn. Ich war damals 12 Jahre alt, als ich eines Nachts einen LKW hörte, wie er an der Gladbecker Straße hielt, wo ich früher wohnte. Ich traute mich nicht aus dem Fenster zu sehen, damit mich niemand sah. Wir hatten Angst. Am nächsten Tag sah ich die leere Wohnung unserer lieben jüdischen Nachbarn. Was hätten wir tun sollen?

Sie hatte einen traurigen Blick bei der Erzählung. Sie war damals jung. Hätte sich der Vater gegen die Abholung gestellt, wäre er vielleicht selbst ins KZ mitgenommen worden und hätte seine Familie gefährdet oder zurückgelassen. Die Situation war damals für keine Seite positiv. Jeder und Jede hätte in der gleichen Nacht an die Wand gestellt werden können, wenn gegen die Partei gesprochen wurde. Angst und Verzweiflung auf der einen Seite und Spott, Hohn und Profit auf der anderen Seite, wenn die leeren Wohnungen und Geschäfte mitsamt Inhalt und Vermögen „Volksdeutschen“ zugeführt wurden.

Die andere Geschichte ist auch diese: Als meine Mutter 9 Jahre alt war, endete der Krieg und ein Schweigen und bewußtes Vergessen und Verdrängen legte sich auf die Generation. Ein Nachbar war bei der NSDAP. Ihr wurde eingetrichtert nicht über ihn zu reden. Er lebte unbehelligt und entnazifiziert bis an sein Lebensende. Es war die Angst, die in der Familie immer noch in den Knochen saß und lieber schweigen wollte, statt zu denunzieren. So hat man Menschen geschützt, die anderen vorher geschadet haben.

Antje Herbst : Auch meine Familie hat immer wieder von den Nazis aus der Nachbarschaft (Lehmkuhle) erzählt. Und allen, die in braunen Uniformen durch die Gegend gelaufen sind. Und nach Kriegsende waren sie alle immer gegen das Regime gewesen. Viele von ihnen waren dann ganz aktiv in der Gemeinde St. Barbara und haben bei Prozessionen dann „den Himmel“ getragen.

Was war die SA?

Der national gesinnte Schlägertrupp, der sich in terroristische Straßenkämpfe gegen SPD und KPD-Mitglieder und Juden organisierte, wurde im November 1920 als Turn- und Sportabteilung gegründet und am 5.Oktober 1921 in Sturmabteilung (abgekürzt SA) geändert. Bis zum Kriegsende besaß die SA 4,5 Mio Mitglieder (Quelle: WDR5 – Zeitzeichen am 4.11.2021). Niemand von ihnen wurde für seine Untaten, auch nicht für die Reichsprogromnacht, vor Gericht gestellt. Gesetzlich hat ein Schlägertrupp nicht gemordet und Schläge und Zerstörung wurden als verjährt eingestuft. Unglaublich klingt, das die Gründer unbescholtene protestantische Pastorensöhne waren. Auf manchen Fotos von zerstörten Läden schauen lächelnd einige Personen in die Kamera, als freuten sie sich, diese Zerstörung miterlebt oder mitgemacht zu haben.

Mehr Informationen gibt es hier: Sturmabteilung – Wikipedia

Das Bethaus ist nun verschwunden, aber die Stele erinnert an diese zu Bottrop gehörende Kultur und Religionszugehörigkeit der Juden. Heute leben etwa zehn BürgerInnen jüdischen Glaubens in Bottrop. Ihr Weg zur religiösen Ausübung des jüdischen Glaubens geht in die Februar 2007 mit etwa 400 GemeindemitgliederInnen neu erbaute traditionell-orthodoxen Gelsenkirchener Synagoge in der Georgstraße 2. Die offene Gemeinde, die zum Großteil aus Menschen aus der Russischen Föderation besteht, freut sich über jeden Besucher. Rundgänge für Schulklassen, Vereine oder Privatpersonen sind gern gesehen.

In der alten Synagoge Gelsenkirchens ist der alte Betsaal ein Ort der Begegnung und des Lernens zu einem Seminarraum umgebaut worden. Unternehmen, Schulklassen und Vereine können in einem schönen geschichtsträchtigem Ambiente Sitzungen und Seminare abhalten und gleichzeitig etwas über den jüdischen Glauben lernen. Es gibt seit 2000 den Sportverein „Makkabi“ in der Gemeinde. Quelle: https://iggelsenkirchen.de

Ein kleines Flämmchen jüdischer Kultur und Lebens in den drei Städten Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop leuchtet. Lieber Leser, Liebe Leserin lasst nicht zu, dass diese Flamme wieder erstickt wird!

Haltet die Stele in der Tourneaustraße in Bottrop und die verlegten „Stolpersteine“ in Ehren, die in Messing eingraviertes jüdisches, aber auch antifaschistisch, regimekritisches Leben und Tod und an ihre ehemaligen Wohnplätze erinnern. Sie bleiben ein kleines Zeugnis für zukünftige Generationen im Ort Bottrop, was passiert ist, damit es sich nicht wiederholt!

In der Bronzetafel der Stele auf der Tourneaustraße ist folgender Text eingraviert:

Die Bronzetafel der Erinnerungsstele auf der Tourneaustraße – Foto: André Brune

Den jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt Bottrop zum Gedächtnis, die im Hause Tourneaustraße 3-5 (früher Helenenstraße) ihren Betsaal hatten. Er wurde in der Progromnacht des 9. November 1938 von den Nationalsozialisten verwüstet. Zum Gedenken an unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die in den Jahren 1933-1945 gedemütigt, vertrieben und ermordet wurden. Ihr alle, die ihr vorübergeht, kommt und seht, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz, den man mir angetan. (Klagelieder 1,12)

So ist die kleine Tourneaustraße, die ausgerechnet die Nationalsozialisten am 16.3.1938, also knapp ein halbes Jahr vor der Reichsprogromnacht so umbeannt hatten, eine ganz besondere erinnerungswürdige Straße mit doppelter Bedeutung eines hoch angesehenen ersten Bürgermeisters, der Bottrops Weg in die Moderne des 19. Jahrhunderts ebnete und einem Denkmal für ehrenvolle Bürgerinnen und Bürger des jüdischen Glaubens, das an das dort ehemals vorhandene Bethaus, erinnern soll.

Wer nun durch diese Straße geht, kann Gedanken schweifen lassen an eine Zeit des Umbruchs kurz vor der industriellen Revolution mit dem ersten Abteufen der Zechen im Ort und knapp 100 Jahre später ein weiterer Umbruch innerhalb der Bevölkerung Bottrops, wo Nationalismus Tod und Verderben für eine religiöse Minderheit, aber auch Regimekritiker, Andersdenkende und auch viele Zivilisten und ZwangsarbeiterInnen haben durch den Bombenhagel der Alliierten ihr Leben verloren. Diese kleine Straße zeigt in kleinen Schritten den zum Glück nur 12 Jahre andauernden Terror in Stadt und Land. Und heute einen glänzenden Neubau gegenüberliegend des noch wunderbar erhaltenen und sanierten Genossenschaftswohnhauses aus den 1920er Jahren, als das Bethaus in voller Funktion genutzt wurde.

Eingang von der Ortbergstraße aus – Foto: André Brune
Blick von der Kirchhellener Straße in die Tourneaustraße – Foto: André Brune

Inne halten

Wer an der Erinnerungsstele einen Halt macht, sollte die Augen schließen und an diese Umbruchszeiten denken, eine Minute inne halten und dann auf den Rathausturm blicken. Er zeigt mit der Uhr kilometerweit eine neue Zeit: Innovation und Zukunft mit dem Blick nach Vorn ohne je die Vergangenheit zu vergessen, was Bottrop groß, aber auch gleichzeitig klein gemacht hat.

Die Erinnerungsstele mit Blick auf den Bottroper Rathausturm und das Gelände des früheren Jüdischen Bethauses – Foto: André Brune

Quellen:

WAZ vom 7.6.2014, 10.09.2014, 26.11.2014, 23.1.2015, 27.1.2015 – Autor: Dirk Aschendorf

Manfred Lück: Juden in Bottrop Band 1 und 2 – Bildnachweis des Bethauses aus Band 1 mit Freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Bottrop

Josef Bucksteeg: Bottrops Straßen und woran die Namen erinnern – Bildnachweis: Wilhelm Tourneau mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Bottrop

Bildnachweise: Mit freundlicher Genehmigung der Stadt Bottrop, Vermessungs- und Katasteramt und das Stadtarchiv

Fotos: André Brune

Straßenname „In der Welheimer Mark“ in Bottrop

Herkunft, Bedeutung, Gegenwart

Straßennamen begleiten uns unser ganzes Leben. Dort erleben wir unsere Kindheit, Heiraten, Arbeiten, Besuchen, Leben und Sterben. Das sind unsere Heimatstraßen. Doch die Straßennamenbedeutung ist für uns eher nebensächlich. Woher stammt der Name, was oder wer steckt dahinter und manche würden mit einer Zeitreise gerne sehen, wie sie vor 100 oder 50 Jahren ausgesehen haben mag.  

Und warum sind manche einfach namentlich geändert worden? Ich beschreibe Geschichte und Gegenwart städtischer Straßennamen in Bildern und Videos in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv und dem Vermessungs- und Katasteramt Bottrop. Viel Spaß beim Lesen, Hören, Sehen und Staunen:

Ausschnitt vom Stadtplan Bottrop 1896 – ehemals genannte Markstraße

Der Name der Straße „ In der Welheimer Mark“ ist von der Stadtverordnetenversammlung am 22.8.1921 beschlossen worden. Der neue Name sollte einen Hinweis auf den neu entstehenden Stadtteil und eine breite Verbindungsstraße zwischen Prosperstraße und Knappenstraße werden mit neuen Ansiedlungen von Wohnhäusern und Industrieanlagen. Sie befindet sich im heutigen Stadtplan K,L,M 14,15,16. Eine Karte von 1906 zeigt im Planquadrat L8 – M6 den Vorgängernamen „Markstraße“. Auch 1896 war die Markstraße schon da, aber es siedelten sich hier noch keine großen Arbeiterfamilien an. Die heutige Straße „In der Welheimer Mark“ Straße entstand somit vor 1896. Sie führt über ca 2 km von der Knappenstraße ausgehend in Richtung Prosperstraße. 1906 lag sie nah am Emscherzufluß Aspel-Flötte, der wiederum an der Stadtgrenze war. Sie wurde gesäumt von vielen Ackerflächen und nur ca. 30 Häusern, wovon noch einige stehen.

-Ausschnitt vom Stadtplan Bottrop 1954 – „In der Welheimer Mark“
Die Veränderung der Jahrzehnte im Aussschnitt vom Stadtplan 1965 – „In der Welheimer Mark“

Kurz vor dem Ende in einer Kurve, wo heute ungefähr das neue renaturierte Emscherzuflusssystem liegt, stand früher eine große Katholische Schule. Gegenüber standen auch einige Häuser. Die Straße wurde im Einzugsbereich der Prosperstraße erst so kurvig gebaut worden durch den Ausbau der Bundesstraße und der erweiterten Reinigung des Emscherzuflußgebiets. Bei Hausnummer 80 überquert das Gleisbett über eine alte Eisenbrücke auch heute noch die „Fiskalische Bahn“ kurz hinter bzw. vor der Stadtteilsiedlung Welheimer Mark. Sie verteilte die Kohle u.a. auch von der Zeche Rheinbaben in Richtung Essen zur Weiterverarbeitung, zum Heizen oder für die angefangene Stromerzeugung beim Verbrennen. 1906 ist die Mark noch ein recht unbewohntes idyllisches Nest mit viel Landwirtschaft und wenig Industrie außer der Pulvermühle, die an der Knappenstraße lag. Bis zur Versteigerung der letzten 100 Emscherbrücher Wildpferde im Jahr 1834 durch den Landrat Friedrich Carl Devens hatten sie hier eine freie Wildbahn. Die Luft und Landschaft muss das genaue Gegenteil gewesen sein, was nach 1906 passierte. Dies ist aber eine andere Geschichte.

Die Welheimer Mark war zu diesem Zeitpunkt kaum bewohnt und es gab auch noch keine Arbeitersiedlung. Die ersten Marker wohnten tatsächlich nur an dieser „Grenzstraße“ zum Regierungsbezirk Düsseldorf kurz vor der mäandernden und oft über die Ufer tretenden Emscher.

Woher stammt der Ausdruck „Mark“?

Er basiert auf dem indogermanischen „mereg-, oder mrog- für Rand bzw. Grenze. Das Wort Grenze allerdings kommt aus dem altslawischen/ altpolnischen Begriff „granica“. Der heutige Stadtteil mit der entprechenden Straße „In der Welheimer Mark“, auch die alte Bezeichnung Markstraße, ist durch diese Wortwahl „Mark“ eine Randstraße von Bottrop, und eben auch eine Grenzstraße des Regierungsbezirks Münster. Ab der anderen Emscherseite begann der preussische Regierungsbezirk Düsseldorf mit Borbeck und Karnap. Diese wurden 1913 und Karnap 1929 nach Essen eingemeindet. Der Begriff „Mark“ hat jedoch noch eine größere Bedeutung aus dem Mittelalter. Doch die Herkunft der Bedeutung wird ausführlicher behandelt in der im August zusätzlichen neu startendenden Geschichte Bottroper Gebiete und Stadtteile. Zurück zur Straße:

Nur 15 Jahre später sah die Welheimer Mark schon anders aus. Einige Straßen und Häuser wurden neu gebaut für die Arbeiterfamilien, die in der Munitionsfabrik von Krupp arbeiteten. und verbanden die Knappenstraße trapezförmig in der noch heute sehenswerten typischen Bauweise mit „In der Welheimer Mark“.

ehemalige Gastwirtschaft „Schweers“ – Foto: André Brune

Eine besondere Bedeutung für die Mark hat die Hausnummer 55. In ihr war die Stadtteil-Gastwirtschaft „Schweers“. 1897 begann Josef Schweers mit der Übernahme der Theke im Haus Nr. 53. Durch die in den Jahren 1905 bis 1918 neu gebauten Häuser durch den Zuzug vieler neuer Arbeiterfamilien für die Munitionsfabrik von Krupp und die Zeche Prosper II, baute 1914 sein Sohn Josef Schweers junior eine größer Gastwirtschaft im Jahr 1914. Allerdings ist dies die letzte „Kneipe“ vor Ort vor ca 15 bis 20 Jahren gewesen. Im ursprünglichen Gastwirtschaftsgebäude Nr. 53 zeugen typische Wandfliesen im Eingangsbereich noch von einem Metzgerladen. Links im flachen Gebäude war ein kleiner Lebensmittelmarkt. Rechts vom Gebäude gab es einen Schuhladen. Die Mark besitzt leider nur noch einen Friseur und eine Pizzeria gegenüber der Kirche St. Antonius. Vor den Schließungen war die Versorgung vor Ort sehr gut. Vielleicht ist das ein Ansporn einen kleinen Lebensmittelmarkt mit anderen Utensilien zu eröffnen, um große Wege zu sparen für die Welheimer in der Mark.

Nach dem 2. Weltkrieg entstanden ab den 1950er Jahren durch die Arenberg Bergbau GmbH für die Prosper II-Arbeiterschaft zusätzliche Straßen und Siedlungshäuser, z.B. in der Straße „Döckelhorst“. Diese wurden kürzlich komplett von Vonovia frisch saniert und liegen eingebettet in herrlicher Natur.

Idyllische Faultürme – Foto: André Brune

Rechtsseitig gegenüber der Straße Haverkamp entstand 1929 einer von vier Kläranlagen der Emschergenossenschaft entlang der mittlerweile in Beton eingegossenen wilden Emscher. Die Betonemscher wurde so zu einem Abwasserfluss die Industrieabwässer und menschliche Abfälle, Exkremente, wie Toilettenpapier durch die kleinen Zuflüsse und Abwasserrohre auffangen musste. Eine eigene durch natürliche Reinigung konnte durch die Einbetonierung nicht mehr stattfinden. Ohne Sauerstoffzufuhr und der Verunreinigung ist jedes betreten selbstmörderisch und verboten bis heute. Die Luft wurde damals „markig“ zersetzt durch den stark bakteriellen Gehalt in den entsprechenden Aufbereitungsbecken der offenen Reinigung. Sie reinigte das gesamte verunreinigte Wasser der Zuflüsse an dieser Stelle mit modernster mechanischen Technik, bevor es in die Emscher geleitet wurde.  Die ursprüngliche Idylle bekam einen üblen täglich begleitenden Duft, der zusätzlich von der Kokerei mit Schwefel angereichert wurde. Noch 1965 gehörte mit Dortmund zu den immisionsreichsten Orten Deutschlands mit begleitenden Erkrankungen der BewohnerInnen.

ehemaliger Eingang zur Kole-Öl-Anlage – Foto: André Brune

Linksseitig hinter der Eisenbahnbrücke stand bis zum Jahr 2000 die Kohle-Öl-Anlage. Das Prinzip aus Kohle Öl zu gewinnen war eine deutschen Erfindung für die Kriegsmaschinerie Hitlers, um unabhängig Öl aus Kohle zu produzieren. 1994 mit großem Tamtam mit dem damaligen Umweltminister Klaus Töpfer wurde diese Anlage für die Duale System Deutschland (DSD)  so umfunktioniert, das der Grüne-Punkt-Müll in Öl umgewandelt werden sollte. Nur sechs Jahre später wanderte bei einer Versteigerung der Großteil nach China, wo sie weiterentwickelt wurde, hier jedoch zu diesem Zeitpunkt leider zu teuer für die Betreiber war. Heute ist nur noch eine wilde Naturlandschaft zu sehen und der Eingangsbereich wird durch einen großen Betonstein gesperrt.  

Von 1991 bis 1996 wurde die Anlage komplett für 230 Mio Euro saniert. Das 147000 m2 große Gelände kann nun 8500 Liter Wasser pro Sekunde mechanisch mit Rechen, Sand- und Fettfang und in einem 10 Meter tiefen Belebtschlammbecken mit Vor- und Nachklärbecken reinigen. Allein das Klärbecken hat eine Gesamtfläche von 58000 m2. In den vier 54 Meter höchsten Faultürmen der Welt mit einem Gesamtvolumen von 60000 m2 entsteht Faulgas aus dem Klärschlamm. Dies wird zur Stromgewinnung und Beheizung der Anlage genutzt. 2008 bekam die Emschergenossenschaft den Innovationspreis der International Water Association verliehen für die „Veredelung“ des Faulgases zu Bio-Erdgas. Damit werden die hauseigenen Fahrzeuge betankt. Ein weiterer Schritt ist die Wassersstoffnutzung.

Blick auf Solarthermische Verbrennungsanlage unter Glas

2021 wurde jetzt die weltweit erste solarthermische Klärschlammtrocknungsanlage auf dem Gelände der alten Schlammplätze gebaut. Sie sieht aus wie ein riesiges gläsernes Treibhaus und ist von der Bundesstraße und „In der Welheimer Mark“ aus zu sehen. In den 32 Trocknungsanlagen auf einer Fläche von 61000 m2 werden mit Hilfe von Sonnenenergie und der Abwärme der Klärschlammverbrennung der Klärschlamm getrocknet. So kann zusätzlich CO2 eingespart werden. Chemischer Wäscher und Biofilter reinigen die Abluft, die durch die eigenständige Verbrennung entsteht.

Renaturierte Boye im Zulauf zum Reinigen – Foto: André Brune

Die kleinen Flüsse Boye, Schwarzbach, Lanferbach, Holz-, Resser- und Sellmannsbach aus den Städten Bottrop, Essen, Bochum, Gelsenkirchen und Gladbeck werden hier vor dem Zufluß in die Emscher bzw. auch aus der Emscher heraus gereinigt. Das sind 240 km2 und das Abwasser von ca. 740000 Einwohner und zahlentechnisch umgerechnet für Industrieabwässer 480000 Einwohner, die hier abwassertechnisch wieder aufbereitet werden. Nachts sind die bunt erleuchteten Faultürme sind ein schönes Postkartenmotiv moderner und innovativer Industriekultur.

Vor der Kurve Richtung Prosperstraße baute die Emschergenossenschaft für ihre Mitarbeiter Ende der 1960er eine kleine günstig zu mietenden Wohnsiedlung mit großzügigen Wohn- und Kellerräumen, Terrasse, Balkon. In der Kurve liegt der Zulauf der renaturierten Bäche Boye. Sie fließt in den Kanal Prosper zur ersten Reinigung mit dem Rechen. Auf dem Gelände suchte bei meinen Recherchen ein Fischreiher sein Glück.

St. Antonius Kirche mit der ältesten Glocke Bottrops – Foto : André Brune

St. Antonius erbaut 1942, die katholische Kirche im Stadtteil, ist im schlichten grauen Stil erbaut. Dies macht es umso interessanter, denn sie besitzt die älteste Glocke Bottrops. Sie stammt aus der mittelalterlischen Kommende Welheim, die im zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde.

Haltestelle Grenze Welheim – Foto: André Brune

Die Linie 294 fährt durch den Stadtteil über die „In der Welheimer Mark“ leider nur einmal pro Stunde. Aber um den historisch idyllischen, wie auch heute technisch innovativen Hintergrund dieser Straße zu erfahren lohnt es sich einmal um die Welheimer Mark zu laufen. Noch immer in Betrieb befindliche Ackerfelder, die historische Kruppsche Arbeitersiedlung und die nur noch wenigen Schornsteine des Ruhrgebiets begleiten die kleine Wanderung. Wer es möchte, kann bei der Emschergenossenschaft oder in der Kokerei nach einer Begehung fragen.

Podcast zur Straße „In der Welheimer Mark“ : Der Ruhrpottologe – Unterwegs im Ruhrpott
Die Straße, die stank: In der Welheimer Mark
Der Ruhrpottologe erzählt beim Erlaufen der Straße, was die Straße verändert hat
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Glück auf wünscht der Autor André Brune

Quellenangabe/Karten:

Leben im Bottroper Süden, Hrsg. Heike Biskup, Bottrop 2007

Alt-Bottroper Kneipenlandschaft, Hrsg. Wilfried Krix, Stadtarchiv Bottrop 2007

Stadtplanausschnitte mit freundlicher Genehmigung der Stadt Bottrop

Internetseite: www.emschergenossenschaft.de

Wikipedia: „Mark“

Fotos/Text: André Brune