Marathon mit Trassenliebherin Verena Liebers I Interview I +Video I +Podcast I +Shorts

Ruhrpottologe unterwegs auf der Springorum-Trasse in Bochum mit Autorin & Sportlerin Verena Liebers & ihr Buch „Trasse ist Klasse“
 

Verena Liebers ist eine lebensfrohe naturverbundene Schreibbiologin. Sie seziert förmlich die natürliche Umgebung. In erzbahntrassenschwingenden Worten zwischen zwei Buchdeckeln lässt sie Leser und Leserinnen dann an ihren freien Dopamingedanken teilhaben.

Glücksgefühle bekommen auch Sofakartoffeln, die nicht so sportlich angehaucht sind. Aber schon beim Lesen werden auch sie sich die Schuhe schnüren und losgehen, wenn es gelesen wurde, ob in Bochum oder ganz Deutschland. Trassen finden sich überall, aber im Ruhrgebiet sehr viele.

Ich habe Verena Liebers, die sich abgekürzt VIGLi nennt, weil Verena Gisela Liebers ihr vollständiger Name ist, nicht nur zu ihrem autobiografischen Sport-Natur-Erzählbuch „Trasse ist Klasse“ interviewt, sondern ich wollte die Frau hinter den geschriebenen Worten kennenlernen.

Außerdem ist zeitgleich der Roman „Klang der Schritte“, an dem sie sieben Jahre lang gearbeitet hat, erschienen. Den reißen wir nur an, weil wir uns dafür mit einer Lesung nochmal extra treffen werden. Aber sie ist nicht nur Autorin, in erster Linie ist sie Biologin. 

Teaser – Short zum Buch „Trasse ist Klasse“:

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Trailer zum Videopodcast:

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Die 62 jährige Verena Liebers läuft schon immer gern seit dem 2. Lebensjahr, wie sie mir im Anfang unseres Gesprächs mitteilte. Mit dem Schreiben begann sie schon mit 7 mit einem ersten Bilderbuch.

Geboren in Berlin hat sie eine Zeitlang in München vor Bochum gewohnt. Die Innenstadt von München war ihr immer ein touristischer Graus, so fuhr für sportliche Freizeitaktivitäten außerhalb der Stadt zum Wandern in den Alpen oder in der Umgebung. Ist ja ein Katzensprung.

Das Schreiben gehörte für sie immer wie selbstverständlich zum Leben. Mit 13 allerdings entschied sie sich schon Biologie zu studieren und nicht Schriftstellerin zu werden. Damals hatte sie noch nicht geahnt, das sich beides erfolgreich vereinbaren lässt.

Zum Sport mit dem Rad, Joggen oder auch Marathon oder Triathlon mitzumachen, kam sie erst in  Bochum auf dem Geschmack als sie 1990 beruflich mit der Dissertation über Allergien durch rote Mückenlarven in der Tasche hier ihre Zelte aufschlug. Seitdem arbeitet sie in der Immunologie für Arbeitsschutz.

Hier waren keine Berge, die ihre Kondition anstrengen konnte, weil es nicht die Berge, wie südlich von München vorhanden waren. Der sportliche Ausgleich wurde hier im Ruhrgebiet dennoch schnell gefunden.

In Bochum fühlt sie sich seit jeher wohl. Sie wohnt in der Nähe der großen Springorum-Trasse, die sie fast täglich nutzt. Sie hat die 2019 komplett fertiggestellte Trasse unweit ihrer Wohnung schätzen und lieben gelernt. Und immer einige Dinge aufgefangen, die sie sich aufgeschrieben hatte. Irgendwann war es soweit und um die sogenannten 25 „Trassensplitter“ kamen die autobiografischen Erzählungen von sportlichen Erlebnissen, die Sportgemeinschaft, die vielen Freunde und die Franks.

Verena und die klasse Trasse (Foto: Copyright André Brune)

 

Nicht nur in Bochum gibt es eine Trasse. Ganz Deutschland hat stillgelegte alte Eisenbahn-Linien zu Rad- und Fußwegen umfunktioniert. Im Ruhrgebiet sind die meisten sehr alt und lange nicht mehr in Funktion. Die Trasse sind ehemalige industriell genutzte Eisenbahnschienenwege. Güter, wie Kohle, Eisen, Koks, Stahl wurden von den Produzentenorten in den Städten, wie eben z.B. Zechen, Bochumer Verein oder Krupp in Essen, dann zu den Kanälen oder Flüssen gebracht, um sie weiter zu transportieren oder zu bearbeiten.

Viele Wege wurden jahrzehntelang nicht mehr genutzt und verwuchsen. Doch die Wege waren noch da. Die Idee war die Trassen nicht nur zur Verkehrsentlastung zu nutzen, um Menschen vom Auto auf das Fahrrad zu bekommen ohne eine Hauptverkehrsader nutzen zu müssen, und gleichzeitig auch einen idealen Freizeitort mit verschiedenen Verbindungswegen auszubauen, die an Sehenswürdigkeiten und Stadtteilen liegen. Erholungs- und Pendlerwege sind nun die Trassen geworden, die noch nicht überall zu 100 % fertig sind. Sie kosten ja auch einige Millionen

***

Kurzinfo zur Springorum-Trasse:

Für die 10 km Springorum-Trasse 5,8 Millionen Euro ausgegeben worden. Sie verbindet den Ruhrtalradweg mit der Innenstadt Bochum. Sie führt auch zum entstehenden Radschnellweg 1 bei der Buselohstraße. Der letzte Abschnitt wurde 2019 der Öffentlichkeit zur Nutzung freigegeben. Der Eisenbahntunnel unterhalb der Hattinger Straße wurde nach der Schließung und Verfüllung vor Jahrzehnten wieder aufgemacht und gesichert. Somit verband der Tunnel die Wege von der Innenstadt Bochum mit dem Weg ab Schlosspark Weitmar bis zum Ruhrtalradweg in Dahlhausen.

RVR – Infos zur Trasse:

Springorum-Trasse (rvr.ruhr)

***

Für Verena Liebers ist nicht nur die Springorum-Trasse somit eine besondere Strecke, wo Joggen, Wandern, Radfahren und Sonntagsspaziergänge stattfinden können, sondern auch die Natur und die anliegenden Gebäude bewundert werden. Es gibt immer was neues zu entdecken!

Sie freut sich über jeden Stau auf der Autobahn, wenn die schwarze Blechlawine steht und sie freudestrahlend ohne Stress staufrei über die Autobahn läuft. Das haben wir zufälligerweise bei unserem Podcasttermin auch erleben dürfen.

Niemand muss also weit fahren, um tolle Dinge zu erleben, stellt Verena Liebers fest. In Bochum ist alles nah beieinander, wenn sie die Haustür verlässt. Egal, ob Theater, Ausstellungen oder Abenteuer auf der Trasse erleben, alles ist sozusagen umme Ecke, wie man hier so schön sagt. Sie weiß den Wohnort im Ruhrgebiet zu schätzen und zu lieben. 

Im Buch beschreibt sie auch einen Marathon in einem kleinen Volkspark in Bottrop oder in Uelzen. Sie beschreibt die Gemeinde der Läufer um sie herum. Irgendwie sind alle miteinander verbunden. Man lernt sich schnell kennen. Im Buch gibt es mehrere Franks. Wobei einer von ihnen gefühlt, wie ein innerer Schweinehund,  Verena mit einer virtuellen Peitsche zu mehr Energie antreibt, wie ein Trainer einer Nationalmannschaft bei der Olympiade.

Verena trainiert nicht nach Plan. Sie verbindet Sport mit Freunde treffen oder Ausstellungen besuchen. Sie setzt sich dann auf ein Fahrrad und fährt mal eben 30 km nach Marl. Verena besitzt kein Auto und lüftet lieber ihr Hirn statt auf der Couch zu liegen. Sie hat auch keinen Fernseher. Nach der Arbeit und anschließendem Laufen oder Radfahren auf der Trasse, hat sie dann auch einen frischen Kopf, um diszipliniert eine Stunde zu schreiben.

Verena liebt die staufreie Trasse während unter ihr die Blechlawine steht (Foto: Copyright André Brune)

 

Mit Ironie belächelt Verena Menschen, die um frische Luft zu tanken extra ins Auto steigen, im Stau stehen, um irgendwo statt vor der Haustür das Gleiche erleben zu können.

Mein kleines Erlebnis mit der Springorum-Trasse:

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Die Trasse ist für sie wie ein Chamäleon, mal nach Flieder oder mal nach Haschisch riechend.

Verena Liebers Lebenslust ist in dem Buch „Trasse ist klasse“ wunderbar zu lesen. Mit dem Buch lernt man die Person kennen und bekommt Geschmack nicht nur das Ruhrgebiet zu besuchen, sondern sich die Joggingschuhe, das Fahrrad in die Hand zu nehmen oder vor die Tür zu gehen, egal wo man wohnt.

Wer hier wohnt, weiß noch immer nicht unbedingt, was es hier alles zu entdecken gibt! Und wer hier nicht wohnt, wird mit dem Verenas Buch mit Sicherheit indirekt aufgefordert mal vorbei zu schauen in Bochum und Umgebung.

Es gibt vieles zu entdecken hier auf und neben der Trasse, ob Springorum – oder Erzbahntrasse, hier ist lebenswerter als viele denken außerhalb des Ruhrgebiets. Deswegen mein Tipp: Buch lesen!

Weitere Titel und Infos von Verena Liebers:
 

Verena Liebers „Vigli“ im Internet

VIGLi (https://vigli.de)

TRASSE IST KLASSE
Bücher (vigli.de)

Instagram
@vigli_verena

Facebook
Verena.Liebers

Kontakt:

Dr. Verena Liebers
44789 Bochum
E-Mail: vigli@vigli.de

Der Buchtipp, worüber wir gesprochen haben:

Trasse ist Klasse – Vom Abenteuer, vor der Haustür zu laufen

Trasse ist Klasse – Buchcover (Copyright aus der Internetseite von Verena Liebers)

Ihre Bücher auch als Ebook bestellen:

Trasse ist Klasse (gebundenes Buch) | Neue Impulse Verlag GmbH (neue-impulse-verlag.de)

ISBN: 9783903376533

Wir hatten unseren Spaß (Foto: Copyright Verena Liebers)

Glück auf aufer Trasse!

P.S.: Mit Verena Liebers werde ich zum Buch „Klang der Schritte“ nochmal einen Extra-Podcast machen und dann auch andere Bücher ansprechen. Hier ging es ausschließlich darum Verena Liebers kennenzulernen und die Trasse und das Buch „Trasse ist Klasse“ und das drumherum. Seid also gespannt! Termin wird noch bekannt gegeben!

P.S. 2: Podcast, Videoaufnahme oder die Buchempfehlung ist aus freier Entscheidung hier beworben worden ohne bezahlt zu werden. Für mich ist wichtig Menschen zu zeigen und interviewen, die hier im Ruhrgebiet was besonderes machen oder sind. Der Beitrag ist unbezahlte und unaufgeforderte Werbung, falls jemand meint ich würde dafür bestimmt bezahlt werden. Ne. Is nicht! Entdeckt VIGLi einfach literarisch! Tschüssikowski!

Weihnachtliche Kurzgeschichte „Otto und der heilige Abend“ von Jack Tengo I + Youtube-Lesung

Hört in Youtube oder lest hier die weihnachtliche Kurzgeschichte von Jack Tengo. 

Mit freundlicher Genehmigung zur Ablichtung in meinem Blog:

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Eine weihnachtliche Kurzgeschichte von Jack Tengo

OTTO und der HEILIGE ABEND

 

„Ach, wat is dat fürn Wetter!“ Otto schaute griesgrämig aus dem Fenster.

„Macht doch allet kein Spaß mehr. Da kannse höchstens noch mitn Hintern inne Bude bleiben“, sagte Otto laut.

Kein Schnee weit und breit zu sehen. Es schüttete draußen, wie aus Kübeln.

„Da krisse doch keine Weihnachtsstimmung, eher Depressionen“, klagte der Frührentner.

Wech vonne Zeche mit Mitte Fuffzich, wie es im Ruhrgebiet gesagt wird. Seitdem erfreute er alljährlich seit 2019 als Weihnachtsmann die Kinder der Nachbarschaft. Dieses Jahr jedoch hatte er irgendwie nicht so den Drang dazu. Das Wetter legte noch einen Deckel drauf.

Sein Nachbar und bester Freund Michael unterstützte ihn bei seinen jährlichen Gängen. Die Müllers, die anderen Nachbarn links vom Zechenhaus, beide über achtzig, waren Rosenliebhaber. Im Winterschlaf der Rosen fütterten sie die Vögel und am Heiligabend luden sie den Weihnachtsmann schon mal zu einem Schwätzchen mit Herrengedeck ein.

Die Nachbarschaft hielt hier zusammen und unterstützte sich gegenseitig. Es gab natürlich auch Ausnahmen. Neu zugezogene Siedlungsbewohner mussten sich erstmal beweisen. Viele ältere Bewohner starben in den letzten Jahren. Die Zechenhäuser bekamen einen Generationenwechsel. Es zogen Alleinstehende oder Alleinerziehende in die Siedlung, die sich anfangs eher zurückhaltend bis gar nicht so gerne zeigten.

Plötzlich klingelte das Telefon. Otto hatte noch so ein altes grünes Drehscheibentelefon von der Deutschen Post anno 1981. Es war für viele schleierhaft, dass der alte Anschluss bei ihm noch immer funktionierte. Der angeschlossene Anrufbeantworter hatte noch ein Kassettendeck.

„Wat is?“, meldete sich Otto brummend.

Sein abfälliges Melden ließ Anrufer am anderen Ende der Leitung erschaudern. Wer mit seiner Ansprache nicht klar kam, legte einfach auf. Otto telefonierte nicht gerne.

Michael legte natürlich nicht auf. Sie kannten sich seit dreißig Jahren.

„Mistwetter, wa Otto?“ 

„Ach, du bis dat, Micha. Jau.“ 

„Ausgerechnet, wo du heute widda in Rotweiẞ gehs!“ 

„Kannse dir nich aussuchen, dat Wetter. Leider. Hasste alle Geschenke für die Blagen zusammen? “  

„Jau. Kann losgehen. Die Özghans haben auch gesagt, dat ihre Blagen wat bekommen solln.“ 

„Dat wundert mich“, sagte Otto stutzig. „Weihnachten is jedet Blach gleich, wa?  Ich geb zu, hätt ich nicht gedacht. Im muslimischen Glauben schleicht sich dat mitte Schenkerei am 24.12. jetz auch rein. Töfte, dat die auch mitmachen. “ 

 

Die Özghans waren eine junge muslimische Familie mit türkischen Vorfahren, die sich in das Zechenhaus dreißig Schritte weiter verliebt und sofort gekauft hatten.

„Et soll angeblich kälter werden und glatt, sacht der alte Müller“ 

„Na, dann werden wa ne Schlitterpartie kriegn statt warmen Regen. Dat is doch im Sinne des Mannes in Rotweiẞ, weisse Bescheid“, sagte Otto.  

Michael lachte. Weisse Bescheid, sagte Otto immer, wenn er eine Feststellung machte.  

„Willse mit uns nachher allein oder mit uns feiern. Bist eingeladen!“ 

„Danke für die Einladung! Abba bin dazu nich aufgelecht. Mir reicht dat den Blagen Geschenke zu bringen. Ich brauch widda ma son guten Film mit ner Ansichtskarte aus Solingen. Bud Spencer, Terence Hill. Aber vielleicht bin ich dafür sowieso nich ma fähich nachher, du weiss, wat ich mein.“  

 

Die Ansichtskarte aus Solingen kam in dem Film „Das Krokodil und sein Nilpferd“ vor. Seit seine Lebensgefährtin ihn verlassen hatte vor drei Jahren, guckte er jede Woche mindestens einmal diesen Film. Zu Weihnachten jedoch mindestens zwei Mal, denn mit anderen Weihnachten zu feiern war ihm irgendwie nie richtig zu mute. Da er keine Kinder hatte, wollte er wenigstens den kleinen Nachbarskindern eine Freude machen. Wenn er hörte, dass sie ein größeres Geschenk wollten, sammelte er in der Straße über das Jahr hinaus Geld  für die Erfüllung der Wünsche. In die strahlenden Gesichter zu schauen, bereitete ihm jedes Jahr wenigstens eine kleine Freude.

„Dann sehen wir bei der Geschenkeverteilung um 16. Ich komm zu dir. Bis später.“ 

„Glück auf!“ verabschiedete Otto sich von Michael. Er bekam den Gruß aus dem Pütt nicht aus dem Kopf. Michael nahm es mit Humor.

Er hatte Otto auf der Zeche kennengelernt. Michael entschied sich aber nach einigen Jahren für eine Umschulung zum Automechaniker. Damals in den 1990ern bot die Ruhrkohle in Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur bei vollem Lohnausgleich die ein oder andere Ausbildung an. Schon damals war bei dem ein oder anderen klar, dass weitere Schließungen kommen können, so wurden die Maßnahmen auf den Zechen angeboten. Einige haben dann zugeschlagen und haben sich umschulen lassen. Aber Michael steht nun einem ähnlichen Strukturwandel in der Autoindustrie bevor. Die Elektroautos brauchen weniger Reparaturen. Es waren mehr Kabel- als Getriebeschäden zu reparieren. Ständige Weiterbildungen waren ihm ein Graus. Michael stand auf Mechanik, nicht auf Elektronik. Wenn er auf der Zeche geblieben wäre, wäre er jetzt auch Frührentner. Über seine Entscheidung ärgerte sich Michael jeden Tag, wenn er zur Arbeit ging.  

Michael schaute in seinen Garten. Er schüttelte den Kopf. Kein Wetter für eine weiße Weihnacht in Sicht, schon lange nicht mehr.  

„Ersma Käffchen. Macht müde Männer munter“, sagte er laut und drückte auf den Knopf der teuren Jura-Maschine, die ihm wieder einige hundert Euro Reparaturkosten statt guten Kaffee bereitete. 

Gleich ging es ja los. Otto abholen und die Kinder beschenken. Er begleitete Otto immer, denn nach dem ein oder anderen voraussichtlichen Pinnchen brauchte er am Ende eine Stütze. Die Stütze war Michael. Er fand es lustig und machte es gern.

Otto wollte sich noch ein wenig hinlegen bevor es losging, als es an seiner Tür klingelte. Er schlurfte griesgrämig zur Tür. Wer zum Mäuse melken störte ihn jetzt kurz vorm Auftritt noch? Er riss die Tür auf.

Frau Müllers Marionettenfalten zogen sich lächelnd nach oben. “Frohes Fest, Otto!”, sagte sie und stürmte mit ihren kleinen Krampfaderbeinen in die Wohnung, als würde sie hier tagein tagaus bei Otto wohnen. 

“Ich weiß”, sagte sie. “Weihnachten selbst feiern ist nich dein Ding. Ausnahmsweise sind wir nachher abba ma nich da. Da hab ich mir erlaubt, dir ein kleinet Plätzkentütken zurecht zu stellen. Und dat hier…” Frau Müller zeigte ein großes Paket. „

Hier ist eine kleine Überraschung für dich für nach deinem Einsatz inner Siedlung.” 

Sie zwinkerte mit den Augen. “Hömma! Der Weihnachtsmann muss auch ein Geschenk kriegn. Abba bitte auch ers nach deinem Einsatz öffnen!” 

Otto staunte nicht schlecht und brummte ein: „Na gut.“ Er hatte mit diesem Paket nicht gerechnet. Jedes Jahr gab es nur eine Plätzchentüte und die sporadische Einladung zum Essen, die er ausschlug. Ansonsten gaben die Müllers ihr ganzes Geld nur den neuesten nicht billigen Rosenzüchtungen aus, um sie im heimischen Garten anzusiedeln.

“Für Michael ham wa ne Flasche Rotwein. Nen Spanischen ausm Rijocha. Den mach er doch gern. Wir sind gleich auf und wech zum Helge und den Enkelkindern. Ausnahmsweise dieset Jahr. Wer weiß, wie lange wir noch so fit sind. Und hier, Otto sind zwei neue Rosenscheren. Ihr beide habt ja so olle verrostete Kamellen. Die müssten doch schon stumpf sein. Zumindest sind eure Rosen zu bemitleiden. ”

Die alte Müller guckte in den trostlosen Garten von Otto, wo momentan nicht eine bunte Rose, die er von den Müllers geschenkt bekommen hatte, farblich das Grau des Wetters erhellte. 

Otto wußte erstmal nichts zu sagen. Rosen sind sowieso nicht so sein Bereich im Garten. Aber er wollte es den Müllers nicht auf die Nase binden. Sie sind immer nett zu ihm. Seine eigene Schere ist zwanzig Jahre alt. Damit hatte er nicht nur Rosen geschnitten. Woher wußte sie, dass sie alt und verrostet ist, fragte er sich. Schnüffelt die in seinem Garten rum?

Für Otto sind die Rosen nur Beiwerk im Garten. Bienen verirren sich in den Blüten kaum. Diese überzüchteten Rassen haben keinen guten Nektar für die Bienen. Rosen sind einfach nur schön, aber nicht mehr natürlich genug. Aber er wollte jetzt keine Fachsimpelei mit der Müller. Er musste sich seelisch auf die kreischenden Kinder vorbereiten. Er bedankte sich höflich.

“Passt auf euch auf! Sind die ganze Woche beim Helge. Kommen am 2.1. widda zurück. Wirf ma n Auge auf unser Heim!” 

Sie drückte ihn. Für ihn war so eine menschliche Nähe eher Stress. Zu Weihnachten machte er eine Ausnahme und ließ sie gewähren. Die Müllers waren zu jedem so herzlich. Sie drückten jeden, den sie mochten. Bei Otto wussten sie, dass sie auf ihn zählen konnten, auch wenn er ein komischer Kauz war. Sie fragten sich jedes Jahr aufs Neue, wieso der eher kaltherzige Otto den Weihnachtsmann spielen konnte.

“Klar. Machen wir. Hab ja zwei. Für jeden Tach ein Auge. Michael hat auch zwei. Kommt hin.“

Die Müller lachte. Witzig sein konnte Otto nicht unbedingt. Aber die Müller lachte sowieso über alles und jeden. Vielleicht lebte sie deswegen schon so lange. Die wird bestimmt noch 100, dachte Otto.  

“Grüßt den Helge und die Blagen. Wir gucken nache Post. Macht euch ma keine Sorgn.” 

“Die hamwa nich. Wir ham ja euch. Grüße richten wa aus.” Schon entschwebte die alte Müller widda aus dem Haus und sprang jugendlich mit ihren 82 Jahren ins Auto zu ihrem Mann, der einmal kurz lächelnd rüberwinkte. Schon rauschten sie davon.

Wie kann die noch immer so agil sein, staunte Otto. Es war noch früh genug, um schnell noch etwas einkaufen zu fahren. Er hatte keinen Kaffee und keine Milch mehr im Kühlschrank. Schlummern bis zum großen Auftritt ging nicht mehr. Die Müller hatte sein Konzept durcheinandergewürfelt.

Er trank den jetzt kalten Kaffee aus, ging zum Bad, rasierte sich kurz, damit der weiße Bart nachher besser kleben konnte und fuhr los, um rechtzeitig wieder zurück zu sein. 

Im Autoradio lief der Song “Deck the Halls”, gesungen von Whitney Houston. Glücklicherweise mal kein “Last Christmas” von Wham, dachte Otto erleichtert. Dieser meistgespielteste Song ging ihm schon langsam auf den Senkel. Aber in drei Tagen läuft im Radio sowieso wieder normale Musik.

Als er in den Supermarkt ging, wurden die letzten 10 Minuten der Öffnungszeit im Lautsprecher angekündigt. Da hatte er tatsächlich noch Glück gehabt. 

Otto kaufte was zum Knabbern, drei Fertigpizzen, Leberwurst und Käse. Ein zusätzliches Brot hatte er zum Glück noch eingefroren. Die Kassiererin wünschte Frohe Festtage, die er bestimmt mit dem Fernseher haben werde, dachte er sich und fuhr zurück. 

Zuhause klingelte schon wieder sein Telefon. Die Mailbox sprang an. Cem Özghan meldete sich. Otto verstaute aber erstmal seinen Einkauf.

“Hey, Otto! Komm nicht zu spät. Nachher gibt’s wat leckeret. Falls du nich bleiben kannst, kriss du wat mit. Nur damite Bescheid weiß.“ Cem lachte auf die Mailbox. Er passte schon allein sprachlich in die Siedlung, dachte Otto. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hätte gar nicht fahren brauchen kurz vor seinem Auftritt. Jede Familie drückte ihm einiges an Essen in die Hand für seinen Auftritt.

Cems Frau Gün konnte sehr gut kochen. An egal welchen Festtagen, es blieb immer irgendwas übrig. Sie kochte einfach immer viel zu viel, gefühlt wie für eine komplette Division. Sein Magen knurrte bei dem Gedanken. Mit leerem Magen losgehen wollte er trotzdem nicht. Der Fusel kann einem schnell zu Kopf steigen auf leerem Magen.

Er schmierte sich schnell noch eine Scheibe Brot mit der frisch gekauften Leberwurst. Wieder klingelte das Telefon. Er ging nicht dran. Er hasste es noch halb kauend am Telefon zu hängen. 

Diesmal sprach seine Tante Christa auf dem Anrufbeantworter. Sie fragte, ob alles gut bei ihm war  und ob er nicht Lust hätte heute zu ihr zu kommen.

Er ging dann doch dran, um ihr kauend mitzuteilen, dass er es gerne machen würde, aber sie wüsste doch, dass er jedes Jahr den Weihnachtsmann machen würde und es am gleichen Tag nicht mehr schaffen würde zu kommen.

„Morgen komme ich dann, wenn du möchtest.  Autofahren ist heute eh nicht mehr möglich. Krich ja überall auchn Herrengedeck, weisse doch.“

Von Ottos Verwandtschaft blieb einzig  Tante Christa übrig. Sie war schon 90. Sie war nicht so agil, wie die alte Müller. Sie war einsam, denn ihre Kinder sind vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert. Sie kamen nur alle paar Jahre zu ihr. Sie war zu Weihnachten diesmal auch wieder allein.  Wenn sie auch nur vierzig Minuten von ihm entfernt wohnte, so besuchte er sie viel zu wenig, obwohl er als Frührentner Zeit genug hätte. Doch zu Weihnachten kam er jedes Jahr. Sie war eine Ausnahme am ersten Weihnachtstag. Dann wird er das Krokodil und sein Nilpferd eben auf den zweiten Weihnachtstag legen. Hauptsache er wird dann seine Ruhe haben. Wer weiß, wie lange sie noch leben wird, dachte er. Alle anderen Verwandten von Otto schauten sich schon lange die Radieschen von unten an. 

Er schaute auf die Uhr, als sie das Telefonat beendeten. Er beruhigte sich. Es war noch etwas Zeit. Draußen jedoch hörte er Kinder aus der Nachbarschaft Weihnachtslieder üben. Einige sind im Chor und gingen heute Abend in die Kirche. 

Otto kontrollierte seine rotweisse Ausstattung. Ab 16 Uhr ging es ja los.

Zuerst plante er zu den Özghans zu gehen. Dann folgten Pichulkes, die zwei Kinder hatten. Danach wollte er zu den Koslowskis, anschließend die Familie Wagner beehren. Als letztes waren die Engels dran. Insgesamt würden zwölf Kindern Geschenke überbracht werden. Dann reichte ihm das auch, denn bei allen Übergaben würden sein Magen und seine Leber einiges abverlangt werden. Und die schreienden Kinder um sich haben, die es nicht erwarten konnten Geschenke auszupacken, werden seine Ohren auch in Mitleidenschaft ziehen, dachte er.

Aber Gutes zu tun erfreute ihn trotzdem einmal im Jahr. 

Es klingelte wieder an der Tür. Wer war das denn nun wieder?

Es war Michael, der etwas früher auftauchte. In sein Leberwurstbrot beißend fragte Otto ihn, ob er auch eine Grundlage vor dem Blagengang gern hätte. 

“Ne. Lass ma,” sagte Michael. “War letztes Jahr so voll von dem Zeuch, wat wir allet zu futtern gekricht ham, weisse.” Michael seufzte tief. “So viel Essen kann doch kein Mensch.” 

Nachdem Otto aufgegessen hatte und zum Santa Weihnachtsmann geworden war, ging es los. Michael hielt den Regenschirm und den zweiten Sack mit den Geschenken. Alles konnte Otto nicht tragen. Michael klingelte bei den Özghans und sagte: „Hei ho. Hei ho. Erste Station! Hier sind die Geschenke zum Weitergeben. Das Blaue für den Jungen. Das Rote für das Mädchen.“ Michael hatte die Geschenke für die Özghankinder bereitgekramt.

„Bin doch nicht blöd“, sagte der Weihnachtsmann Otto.

Die Tür der Özghans ging auf. Ein alter Mann mit zwei großen dunklen Augen starrte ihn an. Otto kannte ihn nicht. Aber er tat seinen Spruch: „Ho Ho Ho! Der Weihnachtsmann ist da!“

Der alte Mann wich erschrocken zurück. Er schrie aufgeregt irgendwas in seiner Muttersprache, was Otto nicht verstand. Er hörte lautes Lachen.

Cem kam mit seinem Sohn um die Ecke. „Ich wollte meinen Großvater die Überraschung nicht verderben“, sagte er lachend zu Otto.

„Du weißt doch, wir feiern ja eigentlich kein Weihnachten mit dem roten Mann. Ich wollte ihm aber etwas von der Kultur beibringen, die wir mittlerweile genießen. Obwohl er das ja kennt, lebt er immer noch im Gestern. Mittlerweile versteht er wenigstens, dass die Enkelkinder es mögen und ihren Spaß daran haben. Und wie du siehst, er ist schon alt, aber immer noch fit.“ Cem zwinkerte mit einem Auge.

„Verstehe,“ brummte Otto durch seinen Bart.

„Hier, kleiner Ali, das ist für Dich.“ Otto bückte sich zu ihm. Ali, der sich hinter seinem Vater versteckte, stürmte hervor und riss ihm das schöne blau verpackte Geschenk aus den Händen und verschwand ohne ein Dankeschön wieder in die Höhle der Wohnung.

Cems Frau Gün kam um die Ecke mit Cems Großvater zurück. Weitere fünf Personen folgten ihnen. Sie wollten alle ein Foto mit Otto.

Otto fühlte sich etwas überfordert. So viele, die ihn drücken und  anfassten wollten.

 „Früher auf Zeche an diesem Tag gearbeitet. Kein Feiertag. Aber mit Steiger Raki getrunken“, sagte Cems Großvater lächelnd.

Otto wurde hellhörig. Er war auch Bergmann gewesen? Ottos Zurückhaltung wich auch einem Lächeln, das unter dem weißen Bart nicht zu sehen war.

„Raki. Ja. Raki. Stimmt!“

„Unser Glauben nicht anders. Soll glauben jeder, wie will“, sagte Cems Großvater.

„Komm Weihnachtsmann, rein in Stube. An diese besondere Tag, wir trinken wie Brüder. Heute wir sind Brüder.“

Schon schlurfte Otto den ersten Hochprozentigen. Ohne Raki kein Entkommen von der Familie Özghan heute.

„Ich darf heute im Dienst eigentlich nur Milch und Plätzchen.“

„Heute kein Milch, heute Raki. Und auf ein Bein nicht du stehen kanns“, sagte Cems Großvater. Schon war das Pinnchen nachgefüllt.

„Komm nachher nochmal vorbei, wenn dein Dienst vorbei ist“, sagte Cem.

„Gün hat wieder viel zu viel gekocht. Du bist herzlich eingeladen, Otto. Geht auch ohne Kostüm. Micha du bist auch eingeladen!“

Michael hielt sich im Flur zurück und beobachtete lächelnd das Geschehen.

„Danke. Müssen aber erstmal unsere Runde schaffen“, sagte er.

Otto wollte mehr über Cems Großvater erfahren. Wo auf welcher Zeche er gearbeitet hatte. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor.

Er überreichte der kleinen Ayse, die sich schüchtern hinter der Mutter versteckte, das rote Paket.

„Bis zum nächsten Jahr liebe Kinder. Macht keinen Unsinn, sons gibbet nix!“

Michael spannte den Schirm auf und lachte.

„Na, wie war der Raki?“

„Boah, der haut ganz schön rein! Gut dat ich vorher noch dat Leberwurstbrot hatte! Gün hat widda für ne halbe Bundeswehr Essen gezaubert. Wir sind eingeladen.“

„Habs mitbekommen. Schauen wir ersma, wie et weitergeht. Hab meinen Raki erma inne Fächerpalme verschwinden lassen. Muss für dich wach bleiben, dattel nachher nach Hause noch komms. Guck ma, Schneeflocken!“

Tatsächlich fing der Regen an in Schnee überzugehen. Kleine Flöckchen fielen jetzt in die Pfützen auf dem Gehweg.

„Bin ich schon so besoffen, dat ich weiße Mäuse seh, die da auf den Boden fallen?“

Sie lachten.

„Weiter geht’s. Jetzt zu den Pachulkes!“

Dort gab es zwei Pinnchen Eierlikör und zusätzlich noch ein Glühwein. Erwärmt sangen Pachulkes, Michael und Otto „Hei Ho, Hei Ho“. Sie stießen nochmal auf die weiße Weihnacht an, die allerdings nicht so richtig Fuß fasste in den riesigen Pfützen.

Bei den Koslowskis warteten vier ungeduldige Kinder auf Otto, den Weihnachtsmann. Als sie ankamen, sangen die Kinder vor dem Anstoß mit einem Pinnchen Wodka erst ein polnisches, dann ein deutsches Weihnachtslied. Fotos wurden gemacht und Gedichte auf Polnisch und Deutsch aufgesagt.

Ottos Gedanken schwirrten durch den Alkoholeinfluss schon beachtliche Wellen. Bei den Koslowskis kamen Erinnerungen an seine eigene Kindheit hoch. Er hatte einen Klos im Hals, als er ein eigenes Weihnachtsgedicht noch mit Ach und Krach aufsagen konnte und zu einem weiteren Lied mitlallte.

Als die beiden weiterziehen wollten, brachte Nikolai, der Vater der Familie, die Beiden zur Tür.

„Auf dem Rückweg kommt ihr nochmal her. Dann trinken wir noch ein paar Pinnchen Wodka, wie es bei uns Tradition ist. Dazu gibt es die Krakauer und polnischen Schinken.“

Viel Platz für Alkohol war nicht mehr. Ob er das schaffen würde, stand in den Sternen. Er nickte und brummte: „Mal sehen.“

Dann standen sie vor dem Zechenhaus der Wagner. Von außen war es das meist geschmückteste Haus der Straße. Es erleuchtete die ganze Umgebung so hell mit ihren Weihnachtsfiguren einer menschengroßen Krippe und Schnee- und Weihnachtsmännern, wie im Film „Eine Schöne Bescherung“ bei den Grisworlds. Chevy Chase als Vater schaffte es mit Ach und Krach die Weihnachtsbeleuchtung hinzubekommen und eine ganze Generation lachte sich schlapp über den Tolpatsch der Familie.

Freudig erwartete Familie Wagner den Weihnachtsmann. Im Hintergrund lief rockige Weihnachtsmusik im Gegensatz zu den traditionellen ruhigen Scheiben der Koslowskis. Michael überreichte einige Geschenke um Otto zu entlasten.

„Ho ho ho! Hier waren wohl besonders…. Hicks….“ Otto hatte einen kleinen Schluckauf. Er wiederholte die letzten Worte. „Hier waren wohl besonders brave Blagn!“

„Und wir waren besonders fleißig in der Schule, Onkel Weihnachtsmann“, sagte die elfjährige Sophie.  

„Vor zwei Jahren hast du mir die Geige gebracht, die ich mir so sehr wünschte. Mit dem gebrochenen Finger konnte ich ja letztes Jahr nicht spielen. Aber heute kriegst du endlich ein kleines Konzert.“

Schon ging es los. Sophie strich über die Saiten und spielte zwei klassische Songs, die so ganz das Gegenteil der Weihnachtsrocklieder waren, die die Wagners hier spielten. Sie war zwar gut, machte aber so den ein oder anderen Patzer, der in den Ohren weh tat. Aber sie übte jeden zweiten Tag. Nächstes Jahr würde sie bestimmt noch besser sein. Die Eltern standen nicht auf diesen klassischen musikalischen Kram. Aber für Sophie taten sie alles, um sie mit der Geige zu fördern. Eine E-Gitarre hätten sie besser gefunden.

Otto hörte gespannt zu. Wenn er hörte, dass ein Kind ein Instrument erlernen wollte, dann sammelte er in der Nachbarschaft Geldspenden. Er selbst spielte früher in seiner Jugend in einer Band.

Die „Kohlenblagen“ spielten zu Weihnachtszeit im Zeitgeist „Let it Snow“ auf Heavy Metal und Punkrock. Das fetzte so richtig, aber die Nachbarn damals waren von den in Ihren Ohren stattfindenden Lärm gar nicht begeistert. Otto ist auch ruhiger geworden. Heavy Metal und Punk hörte er gar nicht mehr. Er wurde eben auch älter, da ändert sich auch der Musikgeschmack.

Sophie bekam einen großen Applaus. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Vor Publikum zu spielen machte ihr nichts aus. Ihre Brüder ärgerten sie anfangs, jetzt waren sie stolz auf ihre Schwester.

Klaus Wagner klopfte Otto auf die Schulter und sagte mit Tränen in den Augen: „Dafür danke ich dir echt von ganzem Herzen. Das war ein sehr großes Geschenk damals. Ist es heute noch!“

Otto war sehr gerührt. Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg.

„Sie hat ein großes Talent. Das muss gefördert werden. Ich steh dazu! Hab selbst auch gespielt früher. Aber anderet.“ Otto strich der Sophie über den Kopf.

„Toll hast du gelernt. Mach weiter so!“

Otto schluckte, denn er hatte ja selbst keine Kinder. Gern hätte er das Talent des eigenen Kindes fördern wollen.

„Bleibt gesund und brav, damit ihr auch nächste Weihnachten wieder schöne Geschenke bekommen könnt“, sagte Otto mit einer leicht weinerlichen Stimme. Er musste hier dringend raus. Die schwere Stimmung und der nun spürbare Alkohol schnürten ihm den Hals zu. Er brauchte frische Luft.

„Jetzt noch die Engels“, sagte Michael.

Michael sortierte die letzten Geschenke in den großen Sack von Otto ein.

Inka Engels machte die Tür auf. Auf ihrem Weihnachtspulli starrte ein Schneemann mit einer viel zu großen Karotte Otto an. Felix, ihr Mann, kam dazu. Auch er hatte einen dieser bewußt hässlichen Weihnachtspullover an. Ein fliegender Santa Claus flog mit scheinbar besoffenen Rentieren durch eine grüne Landschaft. Das war ein Bild, wie es hier ohne Schnee weihnachtlich her ging. Eigentlich war das Motiv sogar näher an der Wirklichkeit, als die Filme im Fernsehen, die ständig eine weiße Weihnacht vorgaukelten.

Michael zuckte die Kamera und fotografierte die Engels mit Otto in der Mitte. Otto hatte schon ordentlich ein im Tee, wie im Ruhrgebiet auch gesagt wird, wenn jemand gut angetrunken ist.

„Ho Ho Ho. Ho Hei Oh Hei. Jetzt sind wir wieder dabei… hicks,“ sang Otto etwas falsch. Die drei Jungs der Engels schrien begeistert und rannten auf Otto los. Fast wäre er gestürzt. Der Alkohol ließ nicht nur seine Sinne schwanken.

Mark, der dreijährige kleinste der Truppe, zupfte an seinem roten Mantel.

„Samta Klauus! Hass wat für mir?“, sagte er in der lustigsten falschesten Grammatik, die es geben konnte. Alle lachten. Otto kramte in dem großen Sack und reichte ihm ein großes Paket. Eine Autotankstelle war darin. Die anderen zwei bekamen ihre Geschenke überreicht. Es wurden reichlich Fotos vom Auspacken und den freudestrahlenden Gesichtern gemacht. Otto war froh, die letzte Hürde auch geschafft zu haben.

Die Leute haben ja keine Ahnung. Wenn er noch mehr Familien besuchen würde, müsste er ins Krankenhaus zur Entziehungskur, dachte Otto.

Aber natürlich ging es ohne den Selbstgemachten von Opa Engels nicht aus dem Haus. Der Schluck aus dem Pinnchen der Engels war noch eine letzte Pflicht. Und das Otto nicht auf einem Bein stehen konnte, wiederholte sich logischerweise auch hier.

„Weiße Jung“, sagte Opa Engels und klopfte ihm derb auf die Schulter.

„Du trinks hier ein altet Familienrezept, musse wissen. 2 Flaschen Doppelkorn, nich den billigen Fusel, den teuren, damite Bescheid weiß. Die schüttese auf ein Kilo Kandis, weißen. Dann zwei Hände voll mit frischen Himbeern und Brombeern. Und dann, pass up, jetz kommt dat Wichtigste: Sechs Jahre lang im Keller vor Licht geschützt auf sich gestellt reifen lassen. Jetz issa fällich! Sechs Jahre sind rum! Is Premiere mit dir Otto!“

Otto schmeckte Brombeeren und Himbeeren tatsächlich auf der spitzen Zunge. Ein Zeug, was er sich unbedingt selbst machen musste. Aber sechs Jahre warten, war ihm zu lange. Wer weiß, was in der Zeit passiert?

„Sechs Jahre? Da kannse ja besser Radieschen statt Früchte nehmen, hömma,… hicks,“ lallte Otto. Alle lachten. Alkohol machte die Zunge des Brummbären Otto locker.

Schon der erste Schluck ging ihm durch Mark und Bein.

„Boah!“ Michael staunte nicht schlecht.

„Der geht durch dick und dünn. Tollet Zeuch!“

„Schluck auf!“, rief Otto. „Meine Glück auf und frohe Ostern…hicks…ich meine Weihnachten.“

Mehr Alkohol konnte er nicht mehr verkraften. Der Rückweg musste ja noch geschafft werden. Und draußen fror der feuchte Boden mit dem herabfallenden Schnee jetzt übelst. Und Cem wollte sie nochmal begrüßen und die Koslowskis auch. Oje.

„Hömma! Dat is wie Medizin!“ sagte Michael.

„Dat is Medizin“, sagte Opa Engels. Alle lachten.

„So Schicht im Schacht! Feiert alle noch schöne Weihnachten. Otto muss ich jetzt nach Hause bringen, damit er es noch schafft.“

„Ach, bleibt doch noch,“ sagte Inka. „Wir haben lecker Kartoffelsalat mit Würstchen.“

„Endlich mal kein Truthahn oder Essen für eine Armee“, sagte Otto und lachte.

„Ne, lass ma. Ich muss dat rote Kleid ausziehen. Ersma nach Hause. Danke euch!“

Die Engels hatten dafür natürlich Verständnis und entließen die beiden mit einem Lachen.

Unterwegs wollten noch ein paar Jugendliche Selfies mit dem Weihnachtsmann Otto machen. Auch Live-Videobotschaften schickten sie auf Tiktok. Einige „Ho Ho Ho“ wurden lallend ins Internet geschickt.

„Lass uns nochmal bei den Koslowskis gucken“, sagte Otto.

„Ne, Otto. Nu is Schluss. Ich bring dich ersma heim.“

„Ne. Ich will den polnischen Schinken.“

„Na gut!“

Michael war nicht begeistert. Aber die Koslowskis waren sehr gastfreundlich und froh sie nochmal begrüßen zu können. Schon stand ein volles Pinnchen polnischer Wodka mit dem Ochsengras auf dem Tisch. Der polnische Schinken und die Krakauer lächelten Otto an.

„Hau wech, die Scheiße!“ sagte Otto laut.

„Doch nicht vor den Kindern sowas sagen“, empörte sich Magda Koslowski lächelnd.

„Ach, jetzt ist auch egal“, sagte ihr Ehemann.

„Greift zu!“

Natürlich mussten sie noch Gebäck mitnehmen. Michaels Handy klingelte. Cem lallte ins Handy, wo sie bleiben würden.

Was sollte Michael sagen? Er konnte ihn jetzt nicht abwimmeln.

„Wir sind gleich da“, sagte er zu Cem.

„Nicht wundern. Wir sind echt schon Fratze, weisse. Der alte Engels hat seinen selbst Angesetzten auf uns angesetzt. Der haut mächtich rein, weisse.“

„Nur Allah is mächtich!“ lallte Cem und lachte.

Wenige Minuten später kamen sie schwankend zu den Özghans zurück. Cems Großvater war schon knapp 90, erfuhren sie.

„Opa redet von nichts anderem mehr als von der Arbeit von Untertage.“

„Ja, so isset. Einmal mitgehangen, bisse mitgefangen, weisse Bescheid!“ Otto lachte lallend und freute sich auf die Geschichten vom Opa Özghan, der ihm immer noch irgendwie bekannt vorkam. Er wußte immer noch nicht, woher er ihn kannte.

Auf dem Tisch lagen Köfte, Baklava, Teigspinatrollen mit Schafskäsefüllung und noch einiges mehr. Otto schwitzte durch das viele Alkohol und die erhitzten Häuser in seinem Kostüm. Er hatte ja darunter nochmal einen dicken Pullover, während der Opa im Sessel mit T-Shirt und Jogginghose saß und vom Bergwerk quatschte.

„Allah segnet euch! Freude, Glück und Gesundheit bringen“, sagte Cems Opa lächelnd als sie sich hinsetzten und Gün weitere Teller brachte. Schon bequatschte Opa Özghan Geschichten von Untertage. Die Pinnchen wurden mit weiteren Raki gefüllt. Sie aßen von jedem etwas. Nach zwanzig Minuten mussten sie sich verabschiedeten. Otto schwankte schon auf dem Stuhl. Michael stützte ihn.

„Ich muss ihn jetzt nach Hause bringen. Sonst fällt er hier noch in die Baklava“, sagte Michael. Alle lachten.

„Brauchst du Hilfe, Michael?“

„Ne, lass mal. Ich kenn das von den letzten Jahren. Wir schaffen das schon. Habt noch schöne Feiertage“, sagte Michael noch immer erstaunlich fit.

„Jau. Schöne Zeit euch… und hau wech den Raki. Trink für mich ein mit“, lallte Otto. Sein weißer Bart hing ihm halb herrunter. Essensreste waren überall verstreut eingegraben. Hier ein Stück Käse, da Baklava und dort ein Stückchen Spinat.

„Boah. Morgen muss ich noch zur Tante. Hoffentlich is der Kater morgen nich so groß“, sagte Otto zu Michael, als der ihm aus dem Kostüm Zuhause half.

„Kuckse ma morgen nache Müllers Wohnung, ob allet in Ordnung is? Die sind ne Woche wech, weiss Bescheid. Dann kann ich direkt los zur Tante. Ach und nimm dir den Wein da wech. Is vonne Müllers. Son Rikocha oder sowat.“

Michael lachte.

„Rijocha, Otto. Mach ich. Schlaf gezz ne Runde!“

„Boah! Ich werd zu alt für diese Weihnachtssauferei“, sagte Otto. Er schmiss sich aufs Bett ohne sich zu waschen und schnarchte im nächsten Moment.

„Frohes Fest, Otto!“, sagte Michael und verschwand aus dem Haus. Er warf einen Blick zu den Müllers. Da schien alles in Ordnung zu sein. Er ging nach Hause.

Lisa, seine Frau, wartete schon auf ihn. Michael war noch relativ fit, weil die Blumentöpfe der Nachbarn wahrscheinlich jetzt besoffene Zimmerpflanzen hatten. Seine Frau freute sich. In der Weihnachtstüte war neben dem spanischen Wein noch eine Weihnachts-CD von Wolfgang Petry, ihren Lieblingssänger. Diese fehlte tatsächlich noch in ihrer Sammlung. Woher wussten die Müllers das? Spionierten die hier herum in der Wohnung?

Egal. Sie schoben sofort die CD rein und feierten für sich den Heiligabend. Sie hatten leider auch keine Kinder. Aber das machte ihnen nichts mehr. Sie haben dieses Thema für sich abgeschlossen.

Am nächsten Tag wachte Otto mit einem dicken Kopf auf. Plötzlich fiel ihm ein, wo er Cems Großvater gesehen hatte. Er war die rechte Hand vom Steiger Bennemann, seinem Ausbilder damals, als er auf der Zeche anfing. Die Kollegen sprachen nicht nett über ihn. Morgen musste er ihn unbedingt nochmal sprechen und ausfragen. Heute musste er erstmal zur Tante. Er schluckte eine Aspirin, aß sein Frühstück und trank einen großen Pott Kaffee.

„Die Welt ist echt klein“, sagte er laut.

Draußen bauten die Kinder einen Schneemann. Es war tatsächlich genug Schnee über Nacht gefallen.

„Frohe Weihnachten, Kinners!“ rief er den Kindern von Koslowski rüber.

„Frohe Weihnachten, Onkel Otto!“

Er lächelte. Bevor er zur Tante fuhr, öffnete er noch das Paket der Müllers.

Walnüsse, gesundes Obst und eine Flasche polnischen Wodka lagen darin.

„Die Leber kriecht noch so einiget zu tun. Und dat Gesunde schenk ich der Tante, damitse noch 100 wird. Hab völlich vergessen, wat für die zu kaufen. Verdammt. Dank den Müllers,“ sagte er laut.

„Jetz abba los.“

Er stieg ins Auto und dann fiel ihm siedendheiß ein, dass er auch vergessen hatte, die Sommerreifen zu wechseln. Ach, der liebe Gott wird’s schon richten, dachte er.

Dieses Mal war er sichtlich erfreut Weihnachtsmann gewesen zu sein und nahm sich doch nochmal vor, nächstes Jahr wieder das Kostüm überzuwerfen. Irgendwann werden die Kinder zu groß sein, es gut zu finden. Doch solange es ging, würde er es machen. Michael würde ihn schon unterstützen. Er winkte Michael zu, der aus dem Fenster schaute, als er losfuhr.

Der Großvater von Cem. An den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern. Er hatte auch nicht gefragt. Alle nannten ihn nur büyük baba. Großvater auf türkisch.

„Morgen. Morgen muss ich unbedingt nochmal hin und fragen.“

 

Ich hoffe, ich habe allen Lesern mit dieser Weihnachtsgeschichte ein wenig Freude verbreitet und das ein oder andere Herz berühren können. Frohes Weihnachtsfest!

Euer Jack Tengo

© Jack Tengo 2023

Lektorat Ewa & André Brune

Youtube-Video I Hörbuchlesung I Bildergalerie I Exklusive Lesung der ersten Seiten von Michael Göbel „Oppa erzählt von seiner Lehrzeit von unter Tage“

Ich brauche nicht viel schreiben, denn ihr seht den Text als Bild exklusiv von Michael Göbel weiter unten in der Bildergalerie oder als Youtube-Video. Sein neues Buch „Oppa erzählt von seiner Lehrzeit von unter Tage“ ist die Fortsetzung von „Mein Oppa war Bergmann“, wo der Opa von Fenja über den Bergbau im Ruhrgebiet und seinen eigenen Erfahrungen mit der Arbeit Untertage. Ich kann dieses schöne „Erklär-Buch“ für Jung und Alt empfehlen. Michael Göbel, selbst Bergmann in Rente, weiß wovon er schreibt und selbstverlegt. Ein Autor, der schnell verstanden hat, dass diese Kultur nun nach und nach verschwindet, aber mit seinen Worten einen bleibenden Literatenstern hinterlässt.

Dies ist eine unbezahlte Werbung für ein besonderes literarisches Werk aus dem Ruhrgebiet! Unten befindet sich der Link für den Kauf der Bücher Band 1 und 2. Alle weitere Links befinden sich auf der Podcast-Seite über Michael Göbel.

Um mehr über den Autoren zu erfahren, könnt ihr euch meinen Podcast mit ihm anhören. Hier ist der Link zu meinem Blogbeitrag, damit nicht lange gesucht werden muss: Der Ruhrpottologe trifft auf den Märchenprinzen Michael Göbel – Ruhrpottologe – André Brune

Ich wünsche viel Spaß beim Hören und natürlich empfehle ich es zu kaufen!

Euer Ruhrpottologe André Brune

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Das Buch „Mein Oppa war Bergmann“:

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Teil 2: „Oppa erzählt von seiner Lehrzeit von unter Tage“ – folgt bei Erscheinen in wenigen Tagen

Der Ruhrpottologe André Brune mit Michael Göbel nach unserem Podcast am Heimatmuseum Wanne-Eickel,
wo auch ein Teil seines zweiten Buches spielt – Foto: André Brune